Zu den ersten Pflichten des Provinzials rechnen die Konstitutionen die Sorge für den Profes- sorennachwuchs, der seine Ausbildung an geeigneten Zentren (Paris – St. Jacques) erhalten sollte. Dass das Studium im Dienst der Seelsorge und Predigt stand, versteht sich nach dem Gesagten. Welcher geistliche Rang ihm zugedacht war, erhellt aus der Verfügung, die sich im Rahmen der liturgischen Anweisungen befindet: «Alle Horen sollen in der Kirche kurz und bündig gebetet werden, dass die Brüder ihre Andacht nicht verlieren und das Studium nicht den geringsten Nachteil erfährt.» Den Studenten sind im Konvent Räume für die scholasti- schen Disputationen zuzuweisen und, wo fern sie als begabt erfunden werden, sollen sie Ein- zelzellen haben, in denen sie ihren religiösen und wissenschaftlichen Pflichten nachkommen.
Kirchen, Konvente und bescheidener Besitz werden akzeptiert. Sie sind unerlässliche Mittel für Theologie und Predigt. Gegen die Armut verstoßen jedoch Grundbesitz und regelmäßige Einkünfte, da sie die Brüder von der Notwendigkeit, den Unterhalt durch Seelsorge zu erwer- ben, befreien würden. Im Übrigen vermeiden die Konstitutionen detaillierte Vorschriften. Sie sind Sache der Generalkapitel. Sie haben den Prozess der Anpassung an die Zeitumstände zu steuern. Ein Muster solcher Variabilität ist die Neufassung der Konstitutionen (1241) unter dem Generalat Raymunds von Peñafort. Weitere Merkmale, die nicht wenig zur Flexibilität beitrugen und Observanzstreitigkeiten vermeiden halfen, liegen in der dem Oberen zugestan- denen Vollmacht, von Vorschriften zu dispensieren, falls sie sich als hinderlich zur Errei- chung des primären Ordensziels erweisen, sowie in der Art der Verpflichtung von Satzungen. Ordensgesetze binden nicht unter Sünde, sondern nur unter Strafe. Das ist damals als uner- hörte Neuerung empfunden worden. Auch räumte man dem Untergebenen ein Beschwerde- recht ein, das ihn vor Willkür und Missbrauch des Gehorsamsgelübdes schützen sollte.
Befremden mag, dass 1228 untersagt wurde, die Seelsorge an Nonnen zu übernehmen. Der Widerspruch zu Dominikus scheint offenkundig zu sein, zumal in den Jahren zuvor anderes bezeugt ist. Man denke an das schöne Verhältnis des Generalmagisters Jordan von Sachsen, des ersten Nachfolgers des Stifters, zu Diana d’Andalo in Bologna, wie es aus der erhaltenen Korrespondenz spricht. Was war der Grund für diesen Rückzug? Es war wohl eine Vor- sichtsmaßnahme, da der Orden fürchtete, Bindungen einzugehen, die seiner Unabhängigkeit und Ortsungebundenheit hinderlich sein würden. Auch war er besorgt, in ökonomische Prob- leme verwickelt zu werden, wie sie für Monasterien typisch waren.
Dass sich der Orden schon wenige Jahre nach dem Tod des Stifters eine so ausgewogene Ver- fassung gab, ist kein Zeichen der Verrechtlichung der Ideale der kleinen Predigerkommunität von einst, sondern ein Beweis für seine innere Festigkeit und seinen Wunsch, im neuen Um- feld zu bestehen. Die Nachgeschichte und namentlich der Umstand, dass er vor schweren Er- schütterungen und Zerreißproben verschont wurde, zeigen eindrücklich, was eine weise und auf Ausgleich bedachte Verfassung zu leisten imstande war. Der Orden breitete sich – die Zahl der im Jahr 1228 vertretenen Provinzen belegt es – rasch aus, wobei er große Städte be- vorzugte, da sie das gewünschte Publikum und materielle Ressourcen boten. Wichtig war schließlich, dass es sich um Orte handelte, die intellektuelle Aktivitäten begünstigten und die Rekrutierung sicherten. Die englische Provinz mag das illustrieren: Die Predigerbrüder gingen zuerst (1221) nach Oxford und dann (1224) nach London. Man hat errechnet, dass bis 1277 etwa 404 Priorate entstanden sind, eine Zahl, die bis 1303 auf 590 anwuchs.
Der erstaunliche Erfolg verdankt sich dem Desiderat der Stunde, der Predigt. Der Orden hat auch dafür einen institutionellen Rahmen geschaffen, indem er den Oberen strikte Auflagen bei der Auswahl und Bildung der Brüder machte. Die Konstitutionen von 1228 sehen vor, dass nur geeignete und geprüfte Kandidaten den Autoritäten präsentiert werden, wie es dem hohen Amt – gesprochen wird von der «Gnade der Predigt» – angemessen ist. Sie müssen wenigstens ein Jahr Theologie studiert haben. Sie haben sogar einen Anspruch darauf, von allen sonstigen konventualen Pflichten befreit zu werden. Die Approbation seitens des Ordens ge- nügte freilich nicht. Obschon es Dominikus gelungen war, seine Gemeinschaft unter den Schutz des Apostolischen Stuhls zu stellen, der nicht gezögert hatte, sie mit dem bisher den Bischöfen reservierten Titel «Predigerorden» zu bezeichnen, war allen Beteiligten klar, dass dahinter Probleme von beträchtlichem Gewicht standen. Die dem einzelnen Predigerbruder von seinem Orden gegebene Erlaubnis setzte die Einwilligung des jeweiligen Diözesanbi- schofs voraus. Wurde sie verweigert, sollten die Brüder päpstliche Schreiben vorweisen, die als übergeordnetes Recht zu betrachten waren. Gleichwohl sollten sie Konflikte nicht provo- zieren, sondern Einvernehmen suchen. Dass dies noch keine allseits akzeptierte Lösung war, sollte sich indessen bald zeigen. Deutlich ist hingegen, dass der Orden aufgrund eines univer- salkirchlichen Mandats einen starken Rückhalt im Papsttum hatte, das er seinerseits nach Kräften zu verteidigen suchte.